Sophia Schellenberger, Lehramt ev. Religionslehre, 7. Semester

Gespenstererscheinung und Seewandel – Zählt die Bibel zur fantastischen Literatur?

Im Dialog mit Atheismus oder anderen Religionen über die Bibel wird häufig auf die folgende  oder ähnliche Weise geurteilt.       

„Das sind doch eh alles nur Märchen.“

„Die übernatürlichen Ereignisse in der Bibel sind doch ganz rational zu erklären.“

„Die Menschen damals haben sich das nur eingebildet, das ist wie bei Gespenstererscheinungen heutzutage.“   

Doch sind die Vergleiche der Bibel und ihrer übernatürlichen Wundergeschichten mit Märchen oder Spukgeschichten überhaupt gerechtfertigt? Und wie gehen Christ*innen im interreligiösen Dialog im Gegenzug mit den Schriften anderer Religionen um?

Um dieser Frage nachzugehen und solche Beurteilungen zu hinterfragen, müssen wir uns mit der Bibel literaturwissenschaftlich beschäftigen. Dafür ist das Genre der Fantastik relevant, welches früher sehr unkonkret durch das Element des Übernatürlichen definiert war[1] und ab 1970 durch Tzvetan Todorovs „Theorie der phantastischen Literatur“ geprägt wurde.  Anhand seiner Theorieansätze will ich eine Wundergeschichte der Bibel mit übernatürlichen Ereignissen analysieren: Die Geschichte des Seewandels aus Matthäus 14,22–33. Die Jünger Jesu fahren mit einem Boot über das Meer, als ein Sturm aufkommt. Plötzlich sehen sie eine Gestalt auf dem Wasser auf sie zulaufen, schreien vor Furcht und halten sie für ein Gespenst. Diese Gestalt gibt sich jedoch als Jesus zu erkennen. Petrus, einer der Jünger, bittet Jesus, ihm zu befehlen, auf dem Wasser zu ihm zu kommen. Nachdem Jesus ihn dazu auffordert, steigt Petrus aus dem Boot und läuft ebenso auf dem Wasser. Beim Anblick des Windes und der starken Wellen erschrickt er und fängt an, unterzugehen. Nachdem die beiden ins Boot zurückgekehrt sind, legt sich der Sturm und die Jünger ehren Jesus als den Sohn Gottes.

Das Hauptmerkmal des Genres der Fantastik liegt in folgender Grundsituation: In der literarisch konstruierten Welt findet ein Ereignis statt, das man mit den Gesetzen ebendieser Welt nicht erklären kann. Daraus ergeben sich drei Möglichkeiten: Die erste besteht darin, dass das Ereignis eine Einbildung oder Sinnestäuschung war und die Gesetze der literarischen Welt bleiben somit bestehen. Dadurch wechselt der Text in das Genre des Unheimlichen.[2] Alternativ hat das Ereignis wirklich so stattgefunden und die Welt wird von unbekannten Gesetzen beherrscht.[3] Das Weltbild im literarischen Text muss an dieser Stelle verändert werden und der Text wird zum Genre des Wunderbaren gezählt. Die dritte Möglichkeit ist die der Unschlüssigkeit. Für den „implizierten Leser“[4] muss es unklar bleiben, ob die Ereignisse in der Geschichte natürlich erklärt werden können oder ob sie eine übernatürliche Erklärung brauchen.[5] Für Todorov geht es nicht um das Empfinden des „realen Lesers“[6] – sonst wäre die Gattungseinteilung abhängig von der „Nervenstärke“[7] der Person, die den Text liest. Es geht also mehr um die Struktur und die Haltung, die der Text selbst vermittelt. Welche Haltung zu den außergewöhnlichen Ereignissen soll für den „implizierten Leser“ unseres Bibeltextes erzeugt werden? Entsteht beim Lesen eine Ungewissheit, ob das Ereignis natürlich oder übernatürlich erklärt werden kann bzw. muss?

Betrachten wir den Bibeltext: Ein paar Männer fahren in einem Boot über das Meer. Das wird nun durch ein ungewöhnliches Ereignis unterbrochen: eine Gestalt, die auf dem Wasser geht. Was für uns als übernatürliches Ereignis die Gesetze unserer Welt bricht, gilt jedoch nicht für die literarische Welt der Bibel. Sie konstruiert eine Welt, in der Gott existiert und imstande ist, Wunder zu bewirken. Wunder sind im biblischen Verständnis ungewöhnliche Ereignisse, die darauf hinweisen, dass höhere Mächte wirken.[8] Die Macht der Wunderwirkung, die darin besteht, die zu erwartenden Weltgesetze zu brechen, gehört zum Wesen Gottes. Durch die Voraussetzung der Existenz Gottes werden die übernatürlichen Ereignisse als Wirklichkeit gesehen und das Weltbild wird nicht durchbrochen. Erst mit der Aufklärung wurden Wunder problematisch, da die Annahme von Gottes Wirken in der Welt mit den nun aufgestellten „Naturgesetzen“ in Konflikt gerät.

Das biblische Weltbild kann man auch in der Erzählung vom Seewandel erkennen: Sie erklärt gleich zu Beginn völlig selbstverständlich, dass Jesus die auf dem Wasser wandelnde Gestalt ist. Auch die Jünger zweifeln nicht daran, ob ihre Wahrnehmung nur eine Einbildung ist. Sie rechnen mit einem übernatürlichen Ereignis und für sie stellt sich nur die Frage, ob das Wesen ein Geist oder aber Jesus ist. Damit wird das zentrale Element der Fantastik nach Todorov nicht erfüllt: Es wird an keiner Stelle eine Unschlüssigkeit erzeugt und damit zwingt der religiöse Text die Leser*innen nicht zur Ungewissheit über die Beurteilung der übernatürlich wirkenden Situation, sondern hat den Anspruch, die Autorität, Macht und göttliche Wirklichkeit Jesu darzustellen. Am Ende wird dies auch noch einmal unterstrichen, indem die Jünger bezeugen, dass Jesus Gottes Sohn ist.[9] Die Geschichte vom Seewandel lässt sich also nicht in das Genre der Fantastik einordnen.

Über die nicht zutreffenden Kriterien hinaus gibt es jedoch noch ein weiteres Problem für die literaturwissenschaftliche Untersuchung: Nach Uwe Durst konstruiert jeder literarische Text ein „Realitätssystem“, welches die Organisation der Gesetze der literarischen Welt darstellt.[10] Jedes „Realitätssystem“ befindet sich auf einem narrativen Spektrum, welches zwischen den Polen des „regulären Systems“[11] als Normrealität und der Abweichungsrealität des „wunderbaren Systems“[12] aufgespannt ist. Das Fantastische mit seiner „Unschlüssigkeit“ liegt dabei als „Nichtsystem“[13] genau auf der Spektrumsmitte. Das Spektrum selbst hat sich jedoch erst mit der Entstehung des realistischen Erzählens im 18. Jahrhundert entwickelt und ab dieser Zeit konnte fantastische Literatur entstehen.[14] Die biblischen Erzählungen kennen also noch keinen realitätssystemischen Gegensatz von Realismus und Wunderbarem. Erst durch die Rezeption in der Moderne wird ein Verhältnis zum Realismus hergestellt[15] und somit die Wahrnehmung der Bibel verändert. Wenn man die Bibel also in die Genres innerhalb des „realitätssystemischen Spektrums“ einordnen will, handelt es sich um einen Anachronismus. Für eine produktive Beschäftigung mit dem „Buch der Bücher“ aus literaturwissenschaftlicher Sicht ist es wichtig, dass nicht versucht wird, die Bibel in den aktuellen Genres und Theorien zu verorten, sondern sich ihrer literarischen Gestaltung zuzuwenden. Hierbei geht es beispielsweise um Erzähltechniken, Figuren und Redekonstellationen zur unterschiedlichen Vermittlung des Inhalts oder die Untersuchung der biblischen Gattungen und ihrer Beziehungen zu anderer altorientalischer Literatur.[16]

Für den interreligiösen Dialog ist es wichtig, nicht durch die eigene Sichtweise Texte der anderen Religion abzuwerten und als nichtig zu betrachten, sondern zu versuchen die Sichtweise der Anderen zu verstehen und von und über die jeweils andere Religion zu lernen. Um einander im Dialog mit Respekt und Interesse zu begegnen, kann die Literaturwissenschaft bspw. mit rezeptionsästhetischen Untersuchungen[19] hilfreich sein, in denen Bedeutung als Zusammenspiel zwischen Text und Leser*in verstanden wird. So können wir ohne abwertende Bemerkungen religiöse Texte im Licht der unterschiedlichen Perspektiven erforschen und im Dialog die Bedeutung der religiösen Schriften für das Leben der Andersgläubigen nachvollziehen.

[1] Durst, Uwe, Theorie der phantastischen Literatur, Basel 2001. S. 17–37.

[2] Vgl. Todorov, Tzvetan, Einführung in die fantastische Literatur, München 1972. S. 44–45.

[3] Vgl. Ebd. S. 25–26.

[4] Ebd. S. 31.

[5] Vgl. Ebd. S. 33.

[6] Ebd. S. 33.

[7] Ebd. S. 35.

[8] Vgl. Kleine, Christoph; Thiel, Winfried; Becker, Michael; Kollmann, Bernd; Ohst, Martin; Stefan, Jan; Klie, Thomas, Wunder. In: Theologische Realenzyklopädie Online. Berlin, New York 2010. https://www.degruyter.com/document/database/TRE/entry/tre.36_378_18/html, 04.08.2021.

[9] Vgl. Ritter, Werner (Hg.), Religion und Fantasie, Göttingen 2000, S. 40–41.

[10] Vgl. Durst, Uwe, Theorie der phantastischen Literatur, Basel 2001. S. 80–81.

[11] Ebd. S. 89.

[12] Ebd. S. 89.

[13] Ebd. S. 117.

[14] Vgl. Ebd. S. 97.

[15] Vgl. Ebd. S. 119–120.

[16] Vgl. Schmidt, Hans-Peter; Weidner, Daniel (Hg.), Bibel als Literatur. München 2008, S. 27–28. Dieses Buch ist auch empfehlenswert für eine weitere Beschäftigung mit der Bibel als Literatur, dort werden auch die genannten Methoden beispielhaft angewandt.

[17] Vgl. Frich, Eckhard, Emisch / etisch. In: Spiritual Care. 7(1) 2019. S. 99–100.

[18] Nach Todorov kann ein Text bei einer allegorischen Lesart auch nicht in die Fantastik eingeordnet werden, mehr dazu in: Todorov, Tzvetan, Einführung in die fantastische Literatur, München 1972. S. 32.

[19] Mehr zur Rezeptionsästhetik in: Iser, Wolfgang, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1994.