

![5. Buch Mose, Kapitel 6, Vers 4: Höre Jissrael: ER unser Gott, ER [ist] Einer! Die jüdischen Strömungen verstehen sich als streng monotheistisch. Sie haben also nicht mehrere Götter, sondern nur einen einzigen Gott, neben dem es keine weiteren Gottheiten gibt. Das kann zu Missverständnissen zwischen Juden* und Christ*innen führen, wenn die christliche Trinität als Glaube an drei Götter verstanden wird.](http://www.diversifaith.com/wp-content/uploads/2020/06/Teaser-3-Judentum-sicher-300x220.jpg)

Jüdischer Rabbi oder Abtrünniger? – Jesus von Nazareth aus jüdischer Sicht
Was sagt das Judentum über Jesus von Nazareth? – Zuerst einmal sagt das Judentum, dass es DAS Judentum gar nicht gibt. Denn genau wie in anderen Religionen trifft man hier auf viele unterschiedliche Strömungen, die auch nicht alle die gleichen Auffassungen teilen. Mit diesem wichtigen Wissen im Hinterkopf kann ich nun versuchen, eine Antwort auf die Frage „Was sagt das Judentum über Jesus von Nazareth?“ zu finden.
Allgemein heißt es, das Judentum ist, wie auch das Christentum und der Islam, eine Buchreligion. Was steht also im Tanach, der autoritativen Schrift der jüdischen Strömungen, über Jesus? Um gleich zu Anfang mit einem Missverständnis zwischen Juden*[1] und Christ*innen aufzuräumen: Im Tanach steht über Jesus von Nazareth gar nichts.[2] Da kann auch nichts über ihn stehen, weil die Schriften des Tanach schon aufgeschrieben wurden, lange bevor Jesus gelebt hat. Das, was Christ*innen meinen, wenn sie von „Jesus im Alten Testament“ reden – im „Alten Testament“ der Christen sind in etwa die gleichen Schriften enthalten wie im Tanach – sind Messiaserwartungen. Diese Messiaserwartungen gibt es dort tatsächlich. Das sind Stellen, in denen dem Volk Israel ein König angekündigt wird. Auf Hebräisch heißt der König (oder „Gesalbte“) Maschiach, die Griechen haben daraus „Messias“ gemacht. Dieser König oder Messias wird am Ende der Zeit das Volk Israel aus Not und Leid befreien und die friedvolle Gottesherrschaft einleiten. Daniel 7,14 (vgl. Teaser) und Sacharja 9,9 sind Stellen, die von dem kommenden Messias berichten.[3]
Sacharja, Kapitel 9, Verse 9-10 (in einer Rede Gottes): 9 Juble sehr, Tochter Zion, schmettre, Tochter Jerusalem! nun kommt dir dein König, ein Erwahrter und Befreiter ist er, ein Gebeugter, und reitet auf dem Esel, auf dem Füllen, dem Grautierjungen. 10 – „Streitgefährt tilge ich aus Efrajim, Roßmacht aus Jerusalem, ausgetilgt wird der Bogen des Kriegs.“ – Er redet den Weltstämmen Frieden, von Meer zu Meer ist sein Walten, vom Strom bis an die Ränder der Erde.[4]
Ein großer Unterschied zwischen Juden* und Christ*innen besteht allerdings in dem Verständnis solcher Stellen. Für Christ*innen ist der angekündigte Messias bereits auf die Erde gekommen, nämlich als Jesus von Nazareth. Deshalb nennen Christ*innen Jesus auch „Christus“ – „Christus“ (bzw. Christos) ist die griechische Übersetzung des hebräischen Wortes für Messias. Juden* halten Jesus nicht für den Messias, sondern erwarten den Messias noch. Es haben sich in der jüdischen Messiaserwartung allerdings ganz unterschiedliche Richtungen entwickelt. So gibt es z. B. die Meinung, der Messias komme in einer Zeit, in der es dem jüdischen Volk sehr schlecht geht, oder, dass das Kommen des Messias von dem Glauben und der Frömmigkeit des jüdischen Volkes abhänge.[5] Es gibt also unterschiedliche Meinungen über den angekündigten Messias, aber nahezu Einigkeit herrscht darüber, dass das Kommen des Messias noch zu erwarten ist.
Wenn Jesus im Tanach nicht vorkommt, was sagen dann aber die jüdischen Strömungen und Gemeinschaften nach Jesu Leben über ihn? – Lange Zeit herrschte von jüdischer Seite aus Schweigen um den Juden Jesus und seine Anhängerschaft. Laut Schalom Ben-Chorin, einem Religionswissenschaftler und jüdischen Schriftsteller, gibt es dafür zwei Gründe: Zum einen wollten die Juden* der Spätantike diese junge Abspaltung der Christ*innen dem Vergessen überlassen und nicht durch breite Debatten in jüdischen Kreisen bekannt machen. Zum anderen breitete sich das Christentum so schnell aus, dass es schon bald sehr gefährlich wurde, Meinungen über Jesus zu äußern, die nicht den christlichen Auffassungen entsprachen.[6]
In dieser Zeit des Schweigens entstanden nur wenige jüdische Texte über Jesus, die heute auch kaum mehr jemand kennt. Sie spiegeln eine sehr negative Sicht auf den Nazarener wider. Das ist allerdings nur allzu verständlich angesichts der Gewalttaten, die von Christ*innen im Namen Jesu gegen Juden* verübt wurden. Das bekannteste Beispiel dafür sind die Kreuzzüge, doch waren sie kein Einzelfall.[7]
Im 19. Jahrhundert erst konnten jüdische Autor*innen vereinzelt ohne Angst Bücher über Jesus schreiben und haben das auch zahlreich getan.[8] Doch auch hier gibt es keine einheitlichen Sichtweisen: Jesus kann als jüdischer Reformer gesehen werden oder als Prophet, mal mit messianischem Anspruch, mal ohne. Es gibt auch viele apologetische Werke, deren Autor*innen sich gegen den Vorwurf verteidigen, Juden* würden die Schuld am Tod Jesu tragen. Dieser Vorwurf entstand, weil es laut den Evangelien (zum Beispiel Matthäus 27) die Hohepriester und Ältesten der Juden gewesen wären, die Jesu Hinrichtung vorantrieben und das jüdische Volk ihn hätte kreuzigen lassen wollen.[9] Inzwischen hält man dieser judenfeindlichen Sicht die historische Tatsache entgegen, dass Jesus ein römisches Verfahren durchlaufen hat und durch Pontius Pilatus, einen römischen Statthalter hingerichtet wurde. Ohne römisches Todesurteil hätte die Kreuzigung nicht stattfinden können. Auf jeden Fall macht man es sich zu leicht, wenn man komplexe historische Prozesse einseitig darstellt![10]
Von jüdischer Seite aus trifft man auch auf die Idee des „Heimholens“[11] des Nazareners. Das meint, dass der stark christlich vereinnahmte Jesus wieder als jüdischer Bruder entdeckt und teilweise auch als Glaubensvorbild geschätzt wird.[12] Inzwischen ist die Zahl an Büchern, die von jüdischer Seite über Jesus geschrieben werden, groß und sie führen in ganz unterschiedliche Richtungen.
Es gibt also keine einheitliche Antwort darauf, was die verschiedenen jüdischen Strömungen über Jesus von Nazareth sagen. Für den jüdisch-christlichen Dialog sollte man sich aber darüber klar sein, dass Juden* und Christ*innen in Jesus von Nazareth sehr Unterschiedliches sehen:[13] Für Christ*innen ist er Gottes Sohn und der Messias, von dem die hebräische Bibel spricht. Für Juden* ist er ein Mensch. Je nach Sicht vielleicht ein guter Rabbi,[14] eventuell ein Prophet oder ein Abtrünniger seiner eigenen Religion, aber nicht der Messias und nicht Gottes Sohn. In dieser Hinsicht liegen die jüdischen Strömungen der islamischen Sichtweise näher als der christlichen. Doch egal, ob oder wie sehr sich die Sicht deines Gegenübers von deiner eigenen unterscheidet – wenn man respektvoll miteinander umgeht, müssen aus Unterschieden noch lange keine Konflikte werden. Vielmehr geben sie Chancen zur Horizonterweiterung!
[1] Die gendergerechte Form von Juden und Jüdinnen lautet Juden* und nicht Jüd*innen, weil bei Jüd*innen der maskuline Teil der „Jüd“ lauten würde. Diese Bezeichnung ist heute aber nicht mehr gebräuchlich. Im Genderstar der Juden* sind aber alle Geschlechter repräsentiert. Vgl. Michael Wuliger, Juden* mit Sternchen, unter https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/juden-mit-sternchen/, aufgerufen am 22.05.2020.
[2] Vgl. Klaus Davidowicz, Jesus – Betrachtungen aus jüdischer Sicht, unter http://david.juden.at/kulturzeitschrift/ 70-75/72-davidowicz.htm, aufgerufen am 06.04.2020.
[3] Vgl. Arnulf Baumann (Hg.), Was jeder vom Judentum wissen muß, Im Auftrag des Arbeitskreises Kirche und Judentum der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und des Deutschen Nationalkomitees des Lutherischen Weltbundes, Gütersloh 1983, 118—120.
[4] Der Text ist wiedergegeben nach „Die Schrift.“, der Übersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig. Nach Rosenzweigs Tod 1929 vollendete Buber die Übersetzung alleine. Siehe Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, zehnte verbesserte Auflage der neubearbeiteten Ausgabe von 1954, Gerlingen 1976. Im Internet findet sich eine Übersetzung von Buber und Rosenzweig unter: http://www.obohu.cz/bible/index.php?styl=BRU&kap=9&k=Za#, aufgerufen am 06.04.2020. Ob es sich um die erste Übersetzung oder die spätere Überarbeitung durch Buber handelt, ist auf der Internetseite nicht ersichtlich, deshalb ist diese online-Quelle für wissenschaftliche Arbeiten leider nicht zitierbar.
[5] Vgl. Baumann (Hg.), Was jeder vom Judentum wissen muß, 1983, S. 120.
[6] Vgl. Schalom Ben-Chorin, Jesus im Judentum, Schriftenreihe für christlich-jüdische Begegnung, Band 4, Wuppertal 1970, 8f.
[7] Vgl. Ben-Chorin, Jesus im Judentum, 1970, 9f. sowie Hans Küng/Pinchas Lapide, Jesus im Widerstreit. Ein jüdisch-christlicher Dialog, München 1976, 12f.
[8] Vgl. Klaus Davidowicz, Jesus – Betrachtungen aus jüdischer Sicht, unter http://david.juden.at/kulturzeitschrift/ 70-75/72-davidowicz.htm, aufgerufen am 06.04.2020.
[9] Vgl. Ben-Chorin, Jesus im Judentum, 1970, 10f. und Klaus Davidowicz, Jesus – Betrachtungen aus jüdischer Sicht, unter http://david.juden.at/kulturzeitschrift/ 70-75/72-davidowicz.htm, aufgerufen am 06.04.2020.
[10] Vgl. Klaus Davidowicz, Jesus – Betrachtungen aus jüdischer Sicht, unter http://david.juden.at/kulturzeitschrift/ 70-75/72-davidowicz.htm, aufgerufen am 06.04.2020.
[11] Hirschberg, Peter, Die „Heimholung Jesu ins Judentum“, unter https://peter-hirschberg.de/artikel/26/die-heimholung-jesu-ins-judentum, aufgerufen am 24.06.2020. Siehe auch Fußnote 11.
[12] Vgl. Küng/Lapide, Jesus im Widerstreit, 1976, 23f. und Baumann (Hg.), Was jeder vom Judentum wissen muß, 1983, 13f.
[13] Dieser Artikel erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, besonders nicht bei dieser heiklen Frage.
[14] Vgl. z. B. Pinchas Lapides Position, Küng/Lapide, Jesus im Widerstreit, 1976, 33f.
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