Können Religionen vom Regenbogenfisch lernen?

„Weit draußen im Meer lebte ein Fisch. Doch kein gewöhnlicher Fisch, nein. Er war der allerschönste Fisch im ganzen Ozean. Sein Schuppenkleid schillerte in allen Regenbogenfarben.“[1]

Falls dieser Satz bei einigen Kindheitserinnerungen hervorruft, liegt das daran, dass mit diesen Sätzen eines der erfolgreichsten deutschen Kinderbücher beginnt: „Der Regenbogenfisch“ von Marcus Pfister. Es erzählt die Geschichte des wunderschönen, aber eitlen Regenbogenfisches, der erst lernen muss, seine Schuppen mit anderen Fischen zu teilen, um nicht mehr einsam zu sein. Pfister brachte unzähligen Kindern die Lektion bei, dass Teilen Freude macht. Längst sind diese Kinder erwachsen geworden und schmunzeln, wenn sie an die Geschichte erinnert werden. Tatsächlich kann allerdings jede*r – egal ob 5, 25 oder 45 – noch von dem Regenbogenfisch lernen. Das schillernde Schuppengewand des Regenbogenfisches und seine Bereitschaft, andere Fische an diesem teilhaben zu lassen, kann auch auf die Vielfältigkeit der einzelnen Religionen bezogen werden.

Der Oktober stand ganz unter dem Leitthema „Farben in den Religionen“. Zum Abschluss stellen wir uns einmal einige Religionen in der Welt des Regebogenfischs vor. In jeder Religion spielen unterschiedliche Farben eine zentrale Rolle, sodass sich die einzelnen Fische zu bunten Schwärmen einer Religion zusammenfinden würden. Welche Farbe hätte beispielsweise ein Fischschwarm des Islams oder des Christentums?[2]

Für die Erstellung des Artikels habe ich einige muslimische Studentinnen im Alter von 20­–25 Jahren über die traditionelle Rolle verschiedener Farbtöne in ihrer Religion befragt. Eine der zentralen Farben in vielen Strömungen des Islams ist die Farbe Grün.[3] Ein Fischschwarm des Islams könnte also Fische in den verschiedensten Grün-Nuancen enthalten. Die Farbe steht im Islam für den Propheten Mohammed, grüne Turbane sind heute noch das Kennzeichen seiner Nachfahren.[4] Doch auch an das Paradies erinnert die Farbe: Grabsteine werden mit grünen Tüchern geschmückt und viele Muslim*innen stellen sich unter dem Paradies einen üppigen Garten vor, in dem die Farbe Grün dominiert.[5] Unter die grünen würden sich vielleicht auch noch einige weiße oder rote Fische mischen. Die Farbe Weiß wird in vielen Kulturen mit ritueller Reinheit[6] in Verbindung gebracht und die befragten Muslim*innen nennen daneben auch Sauberkeit als zentralen Bestandteil ihrer Religion. Als Farbe des Blutes nannte eine Befragte die Farbe Rot als zentral für den Islam, da diese in den rituellen Schlachtungen und Essensvorschriften eine zentrale Rolle spiele.

Der Fischschwarm des Christentums würde im Gegensatz dazu völlig anders aussehen. Der Anteil der grünen Fische würde sich stark reduzieren, wenn auch nicht völlig verschwinden, da die Farbe gelegentlich mit dem Heiligen Geist in Verbindung gebracht wird.[7] Dominante Farben im christlichen Fischschwarm könnten Violett, die Farbe des Fastens, der Buße und der Bischöfe, und Blau, das oft mit Jesus Christus und seiner Mutter Maria in Verbindung gebracht wird, sein.[8] Statt weißen würden sich einige goldene Fische unter den Schwarm mischen, da diese Farbe im Christentum durch die Farbe des goldenen Kalbs, der Bundeslade und der bildlichen Darstellung vieler Heiligenscheine prominent vertreten ist. Die Farbe wird aufgrund ihres Glanzes auch häufig mit ausstrahlendem Licht und dem himmlischen Gottesreich in Verbindung gebracht. [9]

Nach diesem kleinen Gedankenexperiment ist klar: Allein beispielhafte Fischschwärme zweier Religionen sind völlig unterschiedlich. Stellt man sich nun Fischschwärme für alle Religionen samt ihrer vielfältigen Untergruppierungen vor, könnte es keinen eitlen Regenbogenfisch im Meer geben, der als einziger die gesamte Farbenpracht in seinem Schuppenkleid vereint, da alle Religionen mit einer enormen Farbenpracht das Meer bereichern würden. Die Lektion des Regenbogenfischs vom Teilen gilt jedoch auch für die religiösen Fischschwärme: Würde jeder Fischschwarm denken, er sei der bunteste und beste, bliebe jeder unter sich. So würden „christliche Fische“ beispielsweise nie feststellen, dass es noch viel mehr grüne Fische in einem muslimischen Fischschwarm gibt. Sie könnten nie die Bedeutung ihrer eigenen Farbe in einer anderen Religion lernen.

So wie der Regenbogenfisch, der seine Schuppen mit anderen Fischen teilt und so Freunde gewinnt, würden die Religionsfische von einem Austausch ihrer Schuppenfarben und dem Gespräch untereinander profitieren. Wir können ebenso in den Dialog miteinander über unseren Glauben eintreten und warum eigentlich dabei nicht bei den Farben unseres Glaubens anfangen? Der/die eine oder andere wird inmitten von Gold, Violett, Grün und Blau vielleicht feststellen: Jede Religion ist reich (an Farben) und die damit verknüpften Bedeutungen alles andere als das Gleiche, in Grün.

[1] Pfister, Marcus: Der Regenbogenfisch, Zürich, 1992. https://regenbogenfisch.com/

[2] Die Autorin möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass hier keine Religion verallgemeinert oder homogenisiert dargestellt werden soll. Aufgrund des Umfangs des Artikels ist nur ein stichprobenartiger Einblick in die vielfältige Farbenwelt ausgewählter Religionen möglich. Der Artikel erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

[3] Vgl. Schimmel, Annemarie: Die Zeichen Gottes. Die religiöse Welt des Islams, München 1995, S. 42.

[4] Vgl. ebd., S. 42. Vgl. auch: Heller, Eva: Wie Farben wirken. Farbpsychologie, Farbsymbolik, Kreative Farbgestaltung, Reinbek, 1991, S. 73.

[5] Vgl. ebd., S. 73. Vgl. auch: Schimmel, A.: Die Zeichen Gottes, S. 42. Vgl. Eckstut, Joann & Arielle: Rot Orange Gelb Grün Blau Violett. Die geheimnisvolle Sprache der Farben, Köln 2013, S. 146.

[6] Vgl. Heller, E.: Wie Farben wirken, S. 148.

[7] Vgl. ebd., S. 75-76.

[8] Vgl. ebd., S. 39, 76, 169-170.

[9] Vgl. ebd., S. 187. Vgl. auch: Grewe, Bernd-Stefan: Gold. Eine Weltgeschichte, München 2019, S. 18.

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