Prophet Gottes? – Jesus von Nazareth aus muslimischer Sicht

Jesus von Nazareth – auf Arabisch ist sein Name Isa – begegnet sowohl im Koran, als auch in der christlichen Bibel. Die Ähnlichkeiten zeigen, dass in beiden Texten von der gleichen Person die Rede ist. Aber wo genau liegen die Gemeinsamkeiten und wo die Unterschiede? Wer ist Isa von Nazareth im Koran?

Aus der Sure 19 (Maryam), Verse 17-30:

[17] […] Und wir sandten unseren Geist zu ihr. Der stellte sich ihr dar als ein wohlgestalteter (w. ebenmäßiger) Mensch. [18] Sie sagte: Ich suche beim Erbarmer Zuflucht vor dir. (Weiche von mir) wenn du gottesfürchtig bist! [19] Er sagte: (Du brauchst keine Angst vor mir zu haben.) Ich bin doch der Gesandte deines Herrn. (Ich bin von ihm zu dir geschickt) um dir einen lauteren Jungen zu schenken. [20] Sie sagte: Wie sollte ich einen Jungen bekommen, wo mich kein Mann (w. Mensch) berührt hat und ich keine Hure bin? (oder: … berührt hat? Ich bin (doch) keine Hure!) [21] Er sagte: So (ist es, wie dir verkündet wurde). Dein Herr sagt: (oder: So hat dein Herr (es an)gesagt.) Es fällt mir leicht (dies zu bewerkstelligen). Und (wir schenken ihn dir) damit wir ihn zu einem Zeichen für die Menschen machen, und weil wir (den Menschen) Barmherzigkeit erweisen wollen (w. aus Barmherzigkeit von uns). Es ist eine beschlossene Sache. [22] Da war sie nun schwanger mit ihm (d.h. dem Jesusknaben). Und sie zog sich mit ihm an einen fernen Ort zurück. [23] Und die Wehen veranlassten sie, zum Stamm der Palme zu gehen. Sie sagte: Wäre ich doch vorher gestorben und ganz in Vergessenheit geraten! [24] Da rief er (d.h. der Jesusknabe) ihr von unten her zu: Sei nicht traurig! Dein Herr hat unter dir (d.h. zu deinen Füßen?) ein Rinnsal (voll Wasser) gemacht. [25] Und schüttle den Stamm der Palme (indem du ihn) an dich (ziehst)! Dann läßt sie saftige, frische Datteln auf dich herunterfallen. [26] Und iß und trink und sei frohen Mutes (w. kühlen Auges)! Und wenn du (irgend) einen von den Menschen siehst, dann sag: Ich habe dem Barmherzigen ein Fasten gelobt. Darum werde ich heute mit keinem menschlichen Wesen sprechen. [27] Dann kam sie mit ihm zu ihren Leuten, indem sie ihn (auf dem Arm) trug. Sie sagten: Maria! Da hast du etwas Unerhörtes begangen. [28] Schwester Aarons! Dein Vater war doch kein schlechter Kerl (w. Mann) und deine Mutter keine Hure. [29] Da wies sie auf ihn (d.h. den Jesusknaben). Sie sagten: Wie sollen wir mit einem sprechen, der als kleiner Junge (noch) in der Wiege liegt? [30] Er sagte: Ich bin der Diener Gottes. Er hat mir die Schrift gegeben und mich zu einem Propheten gemacht.[1]

In der Sure „Maryam“ ist die Geburtsgeschichte Isas wiedergegeben. In vielem ähnelt sie christlichen Geburtsgeschichten Jesu – z. B. in der Ankündigung der Geburt durch einen Engel und darin, dass Maryam/Maria Jungfrau ist. Die Jungfrauengeburt und, dass der Säugling schon gleich nach seiner Geburt sprechen kann, gelten im Islam als erste Wunder des Propheten Isa.[2] Isa lebt viele Jahre und predigt den Menschen den Glauben an Gott. Er ist ein rechtschaffener und frommer Mensch und wird schließlich von Gott in den Himmel entrückt. Sowohl im Koran, als auch in der christlichen Bibel predigt Isa und tut Wunder.[3] Das Ende des Wirkens Isas auf der Erde wird allerdings unterschiedlich erzählt: Für Muslime ist Isa nicht gestorben, sondern wurde lebend in den Himmel entrückt.[4]

Das schildert Sure 4 (an-Nisa/die Frauen), Verse 157-158:

[157] […] (weil sie) sagten: Wir haben Christus Jesus, den Sohn der Maria und Gesandten Gottes, getötet. Aber sie haben ihn (in Wirklichkeit) nicht getötet und (auch) nicht gekreuzigt. Vielmehr erschien ihnen (ein anderer) ähnlich (so daß sie ihn mit Jesus verwechselten und töteten). […] [158] Nein, Gott hat ihn zu sich (in den Himmel) erhoben. Gott ist mächtig und weise.[5]

Wie genau diese zwei Verse im Arabischen zu verstehen sind, darüber gibt es unter den Korankommentator*innen unterschiedliche Meinungen. Eine Interpretation ist, dass jemand anderes mit Isa verwechselt wurde und statt Isa gekreuzigt wurde. Paret, von dem die oben zitierte Übertragung des Korans ins Deutsche stammt, hat den Vers in diese Richtung weisend ergänzt („so daß sie ihn mit Jesus verwechselten und töteten“). Die am häufigsten vertretene Meinung beschränkt sich aber darauf, festzustellen, dass Isa nicht am Kreuz gestorben ist, sondern noch lebend in den Himmel erhoben wurde. Dann wäre nur noch fraglich, wann Isa sonst gestorben ist (noch vor der Himmelfahrt?) oder sterben wird (erst in der Endzeit?).[6]

Weil Isa nicht tot war, kann er auch nicht von den Toten auferstehen, wie Christ*innen es glauben. Das muss er auch gar nicht, weil der Koran einen stellvertretenden Tod, wie ihn z.B. in ähnlichen Weisen die christlichen Strömungen der Katholik*innen und Protestant*innen vertreten, nicht kennt. Da Sure 6, Vers 164 Stellvertretung für die Sünden Anderer ausschließt, kann auch Jesus nicht stellvertretend sterben:

[164] […] Und jeder begeht nur zu seinem eigenen Nachteil (was er sich an Sünden zuschulden kommen läßt). Und keiner wird die Last eines anderen tragen. Schließlich (w. Hierauf) werdet ihr zu eurem Herrn zurückkehren. Und dann wird er euch Kunde geben über das, worüber ihr (im Diesseits) uneins waret.[7]

Sühnetod und Auferstehung Jesu sind im Islam also theologisch nicht nötig, denn jeder trägt seine eigene Last und muss sich selbst vor Gott verantworten.[8]

Ein wichtiger Unterschied zwischen dem muslimischen und dem christlichen Verständnis von Jesus/Isa ist, dass Isa muslimisch ein wichtiger Prophet war. Er steht in einer Reihe mit Noah, Abraham und Mose, wie Sure 33 (al-Ahzab/die Gruppierungen), Vers 7 zeigt:

[7] Und (damals) als wir von den Propheten ihre Verpflichtung entgegennahmen, und von dir, und von Noah, Abraham, Mose und Jesus, dem Sohn der Maria! […][9]

Die Ansicht, dass Isa eindeutig ein Mensch ist, teilen die islamischen mit den jüdischen Strömungen, die ebenfalls ablehnen, dass Isa Gottes Sohn sein soll.[10] Christlich ist Jesus gleichzeitig Mensch und Gott. Das heißt aber nicht, dass der Mensch Jesus zu einem Gott wurde, sondern dass der eine und einzige Gott sich in einem Menschen, nämlich Jesus offenbart (Näheres zum christlichen Verständnis von Jesus steht im Artikel des letzten Monats „Mensch und Gott? – Jesus von Nazareth aus christlicher Sicht“).

Bei meinen Recherchen für diesen Artikel bin ich auf eine offizielle Äußerung zum ökumenischen Dialog der Evangelischen Kirche im Rheinland von 1997 gestoßen:

[…] Zwischen Gott und Gottesbildern ist zu unterscheiden. Auch wenn Menschen und Religionen verschieden von Gott reden, schafft die Vielzahl von Gottesbildern und Religionen keine Vielzahl von Göttern. […][11]

Besonders der erste Satz hat mein Interesse geweckt. Zwar gibt es unterschiedliche Meinungen darüber, ob im Koran und in der christlichen Bibel von demselben Gott gesprochen wird. Trotzdem möchte ich, wenn ich mit Angehörigen anderer Religionen spreche, daran denken, dass ein Unterschied zwischen Gott und Gottesbild besteht – zumindest meiner Meinung nach – und ich deshalb nicht sicher sein kann, ob das Bild, das ich von Gott habe, das einzig richtige ist und alle Aspekte Gottes vollständig einfangen kann. Ich denke, dass dieser Gedanke davor bewahrt, die eigene Meinung zu absolut zu setzen und er eröffnet die Möglichkeit, Teile eines fremden Gottesbildes in mein eigenes zu integrieren, ohne dadurch meinen Gott zu verlieren. Wie denkst Du darüber?

[1] Die Bedeutung dieser Verse ist von Rudi Paret ins Deutsche übertragen. Siehe Rudi Paret, Der Koran, deutsche Übersetzung, Stuttgart 21979. Im Internet ist diese Übersetzung einsehbar unter https://corpuscoranicum.de/index/index/, aufgerufen am 20.07.2020. Parets Übersetzung ist in wissenschaftlichen Kreisen verbreitet. Der habilitierte Orientalist Navid Kermani kritisiert allerdings, dass die poetische Form ein unverzichtbarer Aspekt des Koran ist, die in Parets Übersetzung unzulässig vernachlässigt wird. Vgl. Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 2007, 153f.

[2] Vgl. Catharina Rachik, Die Geburt Jesu im Koran, unter: http://www.islamiq.de/2018/12/24/die-geburt-jesu-im- koran/, aufgerufen am 29.03.2020.

[3] Vgl. ein Interview der BLiQ-Redaktion mit Dr. Farid Suleiman, einem Post-Doktoranden im Department für Islamisch-Religiöse Studien an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Maria als Prophetin und Jesus als sprechender Säugling? Die islamische Weihnachtsgeschichte, unter: http://www.bliq-journal.de/interview/die-islamische-weihnachtsgeschichte.html, aufgerufen am 29.03.2020.

[4] Vgl. ein Interview des „Forum am Freitag“-Moderators Abdul-Ahmad Rashid mit der islamischen Theologin und Religionswissenschaftlerin Hamideh Mohagheghi, Die Kreuzigung Jesu im Koran. Ein Prophet des Islam, unter https://www.zdf.de/kultur/forum-am-freitag/die-kreuzigung-jesu-im-koran-islam-am-karfreitag-100.html, aufgerufen am 28.07.2020.

[5] Die Bedeutung dieser Verse in deutscher Sprache ist wieder Parets Übersetzung entnommen. Siehe Paret, Koran, deutsche Übersetzung, 1979, oder unter https://corpuscoranicum.de/index/index/sure/4/vers/157, aufgerufen am 20.07.2020.

[6] Vgl. das Interview von Abdul-Ahmad Rashid mit der islamischen Theologin Hamideh Mohagheghi, Die Kreuzigung Jesu im Koran. Ein Prophet des Islam, unter https://www.zdf.de/kultur/forum-am-freitag/die-kreuzigung-jesu-im-koran-islam-am-karfreitag-100.html, aufgerufen am 28.07.2020.

[7] vgl. Paret, Koran, deutsche Übersetzung, 1979, oder unter https://corpuscoranicum.de/index/index/sure/6/vers/164, aufgerufen am 28.07.2020.

[8] Vgl. das Interview von Abdul-Ahmad Rashid mit der islamischen Theologin Hamideh Mohagheghi, Die Kreuzigung Jesu im Koran. Ein Prophet des Islam, unter https://www.zdf.de/kultur/forum-am-freitag/die-kreuzigung-jesu-im-koran-islam-am-karfreitag-100.html, aufgerufen am 28.07.2020.

[9] vgl. Paret, Koran, deutsche Übersetzung, 1979, oder unter https://corpuscoranicum.de/index/index/sure/33/vers/7, aufgerufen am 28.07.2020.

[10] Vgl. Hans-Christoph Goßmann, Kleines ABC des Islam. Eine Einführung im Dialog mit christlichen Traditionen, Stuttgart 1999.

[11] Siehe Evangelische Kirche im Rheinland (Hg.), Christen und Muslime nebeneinander vor dem einen Gott – zur Frage gemeinsamen Betens. Eine Orientierungshilfe, Düsseldorf 1998, 23f.

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