



Spuk, Spiritismus und Sinnbildung. Geisterspuk oder Geisteswahn in Henry James The Turn of the Screw?
Was sollte eine wirklich packende Geistergeschichte eigentlich alles mitbringen? Eine schöne, aber naive Frau? Ein altes Familienanwesen mitten im Nirgendwo? Ehemalige Angestellte, die unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen sind? Oder am besten – wie im Falle von The Turn of the Screw von Henry James gleich alles zuvor Genannte?
Nach wenigen Seiten ist klar: Die junge Frau, angestellt von einem wohlhabenden Gentleman, um auf dem Familienanwesen Bly auf die Kinder Flora und Miles aufzupassen, erwartet alles andere als ein entspanntes Leben als Gouvernante. Henry James liefert ein Warnsignal nach dem Anderen: Die Eltern der Kinder, die ehemalige Gouvernante Miss Jessel und der ehemalige Butler Peter Quint sind allesamt unter mysteriösen Umständen verstorben, die neue Gouvernante soll den Onkel unter keinen Umständen mit Fragen belästigen, der charmante Miles wird ohne jeden Grund von der Schule verwiesen – und dennoch nimmt die Erzählerin die Stelle an. Spätestens als dann von seltsamen Geräuschen in der Nacht berichtet wird und die Gouvernante wiederholt die Geister Jessels und Quints sieht, merkt man als Leser*in: Seltsame Dinge gehen vor sich auf Bly.[1] Gemäß den Bedingungen ihres Arbeitgebers entscheidet sich die Gouvernante, die Kinder eigenverantwortlich vor dem vermeintlich schädigenden Einfluss der Geister zu retten und hat dabei nicht nur keinen Erfolg, sondern führt ein Ergebnis von katastrophalen Ausmaßen herbei.[2]
Doch was auf den ersten Blick wie eine Geistergeschichte aussieht, kann bei genauerer Betrachtung auch als eine zweite, völlig andere Geschichte gelesen werden: The Turn of the Screw ist auch das Zeugnis einer Gouvernante, die – von Überforderung und Überarbeitung geplagt – verrückt wird und sich die Geister einbildet. Welche der beiden Lesarten die eigentlich richtige ist, lässt der Text jedoch offen. Auch ich will in diesem Artikel gar nicht entscheiden, welche der beiden Interpretationen wahrscheinlicher ist, sondern gerade die Uneindeutigkeit der Geschichte als ihre Stärke betonen. Weil sich der Plot der Novelle mit dem Geisterspuk zu großen Teilen beim Spiritismus bedient und meine Analyse auf der Theorie der Fantastik aufbaut – Schlagwörter, die über den Monat hinweg bereits in den Teasern gefallen sind – wollen wir diese beiden Phänomene jetzt noch genauer betrachten.
Als James seine Geschichte veröffentlicht, werden junge Frauen wie die Erzählerin seiner Novelle, die Geister sehen, anders als im heutigen gesellschaftlichen Mainstream nicht zwangsläufig als verrückt abgeschrieben. Im März 1848, 50 Jahre bevor James seine Novelle schreibt, dringen in einem Farmhaus im Bundestaat New York nachts seltsame Klopfgeräusche an die Ohren der Bewohner*innen, deren Nachverfolgung schließlich zur Aufklärung eines Mordes führt. Die beiden Schwestern, die das Haus mit ihren Eltern bewohnten und damals noch Kinder waren, macht das Ereignis berühmt und sie bereisen das Land, um von ihren Erfahrungen zu berichten – geboren waren die ersten Medien.[3] Auch in England verbreitet sich das Interesse an Geistern und führt im Jahr 1882 zur Gründung der Society for Psychical Research, die bald über 700 Mitglieder zählte – unter ihnen auch angesehene Wissenschaftler – und die es sich zur Aufgabe machte, Berichten von Geistersichtungen nachzugehen.[4] Vor allem der für Henry James prägende amerikanische Spiritismus geht davon aus, dass der Mensch nach seinem Tod in einer Geisterwelt weiterexistiert und die Lebenden über Séancen und ein, oftmals weibliches, Medium in Kontakt mit den Verstorbenen treten können.[5] Die Geister erscheinen dabei nach ihren eigenen Gesetzen als körperlose, aber sichtbare, hörbare und spürbare Erscheinungen und hinterlassen ein Gefühl von Gefahr, Unheil und Grauen.[6]
Ebenfalls in Auseinandersetzung mit Geistern – allerdings mit deren Präsenz in literarischen Texten – beschreibt Tzvetan Todorov mit der Fantastik eine Gattung von Texten, in denen die Grenze zwischen Realität und Illusion verschwimmt. Genau das geschieht auch in The Turn of the Screw. Der Geisterspuk, den die Gouvernante auf Bly erlebt, stellt uns vor ein Problem: Sind die Geister real und ist die Gouvernante also psychisch völlig stabil und möglicherweise mit Fähigkeiten ausgestattet, die an die spiritistischen Medien erinnern? Oder bildet sich die verrückte Gouvernante alles nur ein? James‘ Text ist eine Spukgeschichte wie viele andere, doch was sie bemerkenswert macht, ist, dass die zentrale Frage, woher die Geister von Bly eigentlich kommen, offen bleibt: Entspringen sie dem Jenseits oder der Vorstellung der Gouvernante? [7] Denkbar ist beides, auch weil der Text mit einer unzuverlässigen Ich-Erzählerin arbeitet, die zwar das einzige Zeugnis für die Geschehnisse auf Bly ablegt, deren Aussagen aber nicht zu trauen ist.[8] Die Gouvernante verhält sich seltsam – sie reagiert nicht mit Furcht, sondern mit Neugier auf die seltsamen Gestalten, sie lügt für den Leser/die Leserin erkenntlich in Bezug auf die Geister – und schlussendlich hat sie zu rechtfertigen, wie die Situation innerhalb weniger Monate nach ihrer Ankunft völlig eskalieren konnte.[9]
Basierend auf ihrer Erzählung ist es also unmöglich, sich klar für eine der Optionen zu entscheiden – wir wissen schlicht nicht, ob wir den verzweifelten Appell einer Gouvernante lesen, der tatsächlich Geister begegnen – oder den Versuch einer psychisch labilen Frau, eine von ihr verursachte Katastrophe zu rechtfertigen. Und genau das ist typisch für die Struktur eines fantastischen Textes nach Todorov: Würde der Text sich klar für eine Möglichkeit entscheiden, würde er das Genre des Fantastischen verlassen. Der Text ist von James so konstruiert, dass er von sich aus die möglichen Interpretationen von Geisterspuk oder Geisteskrankheit immer wieder gegeneinander abwägt.[10] Dabei spielt vor allem die Zuwendung zum Innenleben der Protagonist*innen und die realistische Darstellung ihrer Perspektive, für die James bekannt ist, eine wichtige Rolle.[11] Dieser Schwebezustand funktioniert allerdings nur unter der Voraussetzung, dass das übernatürliche Phänomen des Geisterspuks zumindest innertextlich als valide Möglichkeit gehandelt wird.
Die weitreichenden öffentlichen Debatten des 19. Jahrhunderts und der Spiritismus liefern nicht nur einen Grund für den ersten Erfolg der Novelle, sondern können auch dabei helfen, die Ambiguität des Textes wahrzunehmen. Spiritismus und Fantastik funktionieren auch deshalb so gut zusammen, da beide mit menschlicher Unschlüssigkeit spielen. Genauso wie fantastische Texte Raum zum Zweifeln lassen, ist der Umgang mit Spiritismus häufig vom Schwanken zwischen Versuchen der naturwissenschaftlichen Analyse einerseits und persönlicher Religiosität andererseits gekennzeichnet. Dass Aussagen über Geistersichtungen bereits im 19. Jahrhundert zwar strittig aber nicht vollständig außerhalb des Bereichs des Möglichen lagen, macht sich James in seiner Novelle zu nutze. Doch auch im 21. Jahrhundert scheint es ein Publikum für diese Art von Fragestellung zu geben: Die 2020 von Netflix adaptierte Serie Spuk in Bly Manor[12] erzählt die Geschichte der Gouvernante neu und entscheidet sich dafür, sie bereits vor ihrer Ankunft auf Bly als von Geistern verfolgt darzustellen – also ist die junge Frau bereits vor Jobbeginn verrückt. Oder doch nicht? Wer dieses Halloween noch nichts vor hat, kann die Serie ja seiner eigenen Analyse unterziehen und zu einem eigenen Schluss kommen: Geisterspuk, Geisteskrankheit, oder doch fantastische Unschlüssigkeit?
[1] Vgl. James, Henry (1996, originally published 1898): The turn of the Screw & The lesson of the Master. New York, S. 5–8, 15–16, 18–19, 23–24, 30, 32, 35–36.
[2] Einen ausführlichen Überblick über den Plot in Kombination mit den verschiedenen Interpretationsarten gibt Peter Beidler in seiner Monografie zu James‘ Werk: Vgl. Beidler, Peter G. (1989): Ghosts, demons and Henry James. The Turn of the screw at the turn of the century. Columbia, S. 1–10.
[3] Vgl. Ebd., S. 13, 17–19. Vgl. auch: Bergunder, Michael: Spiritismus, in: Religion in Geschichte und Gegenwart Band 7, 4. Auflage 2004, Tübingen, S: 1584.
[4] Vgl. Beidler, Ghosts, demons and Henry James, 24–26. Vgl. auch Frenschkowski, Marco (2013): Okkultismus, Spiritismus, Seelenwanderung, in: Brittnacher, & May (Hg.): Phantastik, Stuttgart, S. 439.
[5] Vgl. Bergunder, Michael: Spiritismus, in: Religion in Geschichte und Gegenwart Band 7, S. 1584.
[6] Vgl. Anold-de Simine, Silke (2013): Geister und Dämonen, in: Brittnacher, & May (Hg.): Phantastik, Stuttgart, S. 376–377.
[7] Vgl. Colesch-Foisner, Sabine (2013): England / USA, in: Brittnacher & May (Hg.): Phantastik, Stuttgart, S. 128–129.
[8] Vgl. Beidler, Ghosts, demons, and Henry James, S. 11.
[9] Vgl. James, The turn of the screw, S. 10, 23–24, 30–31, 89–90, 92–93.
[10] Vgl. Beidler, Ghosts, demons and Henry James, S. 11. Vgl. Todorov, Tzvetan (1970): Einführung in die fantastische Literatur, Berlin 2018, S. 33–34, 41–42, 45.
[11] Vgl. Murane, Barry (2013): England/USA, in: Brittnacher & May (Hg.): Phantastik, Stuttgart, S. 98–99.
[12] Vgl. Netflix Deutschland: https://www.netflix.com/de/title/81237854 (31.März 2021).
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