



Warum wecken (christliche) Verschwörungstheorien so viel Interesse?
Am Beispiel von Dan Browns Beststeller Sakrileg
Dan Browns Geschichte über Professor Robert Langdon und die Verschwörung der Kirche gegen die Nachkommen Jesu Christi hat ihn zu einem weltberühmten Autor gemacht. Doch warum ist ausgerechnet ein Buch, das eine Verschwörungstheorie aufgreift, so beliebt?
Zunächst einmal sollte für die Beantwortung dieser Frage geklärt werden, was eine Verschwörungstheorie ist. Marlene Schönberger, eine Mitarbeiterin des Geschwister-Scholl-Instituts für Politikwissenschaft, definiert diese „als eine Sammelbezeichnung für all jene Denkfiguren, bei denen die Ursachen für Ereignisse, Entwicklungen und Entscheidungen nicht in den offenkundigen beziehungsweise erschließbaren Zusammenhängen gesucht werden, sondern in Verschwörungen, die sich dahinter verbergen. Eine Verschwörung bezeichnet dabei das meist heimliche Bündnis mehrerer Personen, die ein gemeinsames Ziel verfolgen.“[1] In der Regel werden den Verschwörer*innen böse und selbstsüchtige Motive unterstellt.[2] Mittlerweile werden statt „Verschwörungstheorie“ meistens die Begriffe „Verschwörungsmythos“ oder „Verschwörungsnarrativ“ verwendet.
Sakrileg befasst sich mit einem Verschwörungsmythos, der von Sir Leigh Teabing, einer Figur des Romans, als „die größte Verschleierungsaktion in der Geschichte der Menschheit“[3] bezeichnet wird. Es geht darum, dass Jesus mit Maria Magdalena – die laut Sakrileg keinesfalls eine Prostituierte, sondern im Gegenteil sogar von königlichem Geblüt war – verheiratet gewesen und Nachkommen gezeugt haben soll. Die Kirche habe seit jeher versucht, die Beweise dafür zu vernichten, wohingegen die Prieuré de Sion – zwischenzeitlich in Gestalt der Tempelritter – die Nachkommen jahrhundertelang beschützte. Durchweg funktioniert habe die Vertuschung allerdings nicht, denn die Geschichte sei bis heute als die Legende vom Heiligen Gral bekannt.[4] Außerdem wird von den Nachkommen Maria Magdalenas und deren immerwährender Flucht im Schutze der Prieuré de Sion erzählt. Der Sarkophag Maria Magdalenas und eine Dokumentation ihrer Nachkommenschaft sollen ebenfalls bis heute existieren.[5]
Dieser Verschwörungsmythos leistet sicherlich einen Beitrag zur Popularität des Romans. Denn Verschwörungsmythen erfreuen sich aus verschiedenen Gründen großer Beliebtheit: Zunächst einmal ist die Sehnsucht des Menschen nach Verständnis ein Faktor, der diese interessant macht.[6] Sie erklären häufig nicht nur Ereignisse, für die es offiziell keine klare Erklärung gibt, sondern sie führen auch zu aktivem Denken, zu einem Aha-Erlebnis und schließlich zu einem gewissen Selbstwirksamkeitserleben dadurch, dass man selbst schlussfolgert und Erklärungen nachvollzieht, zu denen vielleicht nicht jede/r Zugang hat.[7] Auch der Hinweis auf ein Rätsel, dessen Lösung versteckt ist, sowie Lücken in einer Geschichte oder einer Ereignisabfolge wecken Neugierde. Man wird dadurch angeregt, die Lücke selbst zu schließen bzw. das Rätsel selbst zu lösen.[8] In Sakrileg wird beispielsweise sehr detailliert und plausibel anhand historischer Ereignisse beschrieben, wie die Vertuschungsaktion ihren Lauf nahm. Fragen zu Maria Magdalena und zu einigen berühmten Kunstwerken, die bis heute unerklärlich sind, werden beantwortet. Gleichzeitig besticht das Buch mit einer Erzählweise, die nur stückweise Informationen enthüllt und immer wieder Lücken lässt, wodurch der Leser/die Leserin zum Mitdenken und -rätseln animiert wird. Das führt dazu, dass man noch tiefer in die Geschichte eintaucht.
Außerdem kann sich fast jeder Mensch mit der Geschichte des kleinen Helden, der gegen das übermächtige Böse kämpft, identifizieren.[9] Beim Aufwachsen erleben viele dieses Gefühl im Streit mit den Erziehungsberechtigten.[10] Diese Identifikation mit Held*innen führt auch zu einem stark ausgeprägten Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der sogenannten „Erwachten“, also derjenigen, die die „Wahrheit“ erkannt haben.[11] Dr. Michael Blume drückt das in seinem Podcast Verschwörungsfragen sehr passend mit den Worten „Maximale Liebe und gegenseitige Anerkennung nach innen, Hass und Misstrauen gegen alle Außenstehenden“[12] aus. So begegnet man auch aktuell vielen Verschwörungstheoretiker*innen, die sich in ihrer Ablehnung der politischen und gesetzlichen Maßnahmen zum Coronavirus vereinen und hinter der Pandemie eine Verschwörung der „Eliten“ sehen. Der Roman beschwört ebenfalls eine starke Identifikation mit den Protagonisten herauf, unter anderem, weil wieder einmal eine kleine Gruppe gegen einen übermächtigen Feind – die Kirche – steht. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl könnte sich dadurch entfalten, dass viele Menschen nicht zuletzt wegen der Rolle der Kirche in der Vergangenheit unzufrieden mit dieser sind. Die Mitwisserschaft der Leser*innen trägt zu diesem „Wir“-Gefühl ebenfalls bei. Man grenzt sich von den „Nichtwissenden“ ab und es entsteht eine Form dessen, was Dr. Michael Blume beschrieb.
Die Rede von der „größte[n] Verschleierungsaktion in der Geschichte der Menschheit“ weckt außerdem die Sensationsgier im Menschen.
Auch sonst trägt die Tatsache, dass es sich um eine Verschwörungstheorie zum Christentum handelt, einiges zu deren Attraktivität bei. Der christliche Glaube ist Teil unserer europäischen Kultur. Fast jede*r kennt ihn, fast jede*r weiß grundlegende Dinge darüber. Das heißt, fast jede*r besitzt auch das nötige Wissen, um den Mythos nachvollziehen und mitdenken zu können.
Dennoch ist das Buch nicht so kirchenfeindlich, wie man zunächst annehmen mag. Im Roman wird die Kirche zwar historisch durchaus als eine böse Macht gesehen, weil die Beschützer des Geheimnisses verfolgt und getötet wurden. In der Gegenwart des Buches wird sie ironischerweise aber ebenso eine Marionette, ein Opfer eines geheimnisvollen Drahtziehers wie Robert und Sophie, die Protagonisten, selbst, denn dieser nutzt die Notlage von Bischof Aringarosa und dessen Vertrauen für seine eigenen Ziele aus. Besagter Bischof, eine der führenden Persönlichkeiten auf Seiten der Kirche, bittet am Ende jedoch eindrücklich darum, nicht noch mehr Gewalttaten im Namen der Kirche zu verüben.[13] Jesu menschliche Züge und Triebhaftigkeit sollen im Buch deshalb verschleiert werden, weil sie seiner Göttlichkeit entgegen stehen. Nichtsdestotrotz wird der Gedanke aufgegriffen, dass Jesus, selbst wenn er rein menschlich gewesen sein sollte, eine herausragende Persönlichkeit war, die bis heute viele Menschen zu einem besseren Leben animiert.[14] Der Verschwörungsmythos wird dadurch etwas entkräftet und der Blick auf die Kirche weniger einseitig.
Insgesamt zeigt der Erfolg des Buches, dass die Auseinandersetzung mit Religion – in unserer Kultur vor allem mit dem Christentum – auch im Zeitalter einer zunehmenden Abnahme von Religion im öffentlichen Leben eine hohe Attraktivität besitzt. Dabei stillen Verschwörungstheorien in hohem Maße nicht nur die Sensationsgier, sondern auch die Sehnsucht nach Verständnis und das Bedürfnis, selbst versteckte Zusammenhänge zu erkennen. Mangelnde Zugänglichkeit und Verlust von religiösem Wissen sowie steigende Distanz zur Kirche tragen ihren Teil dazu bei. Einige Faktoren für die Beliebtheit des Buches finden sich auch in klassischem Storytelling von Literatur und Filmen.
Für meinen Glauben – und ich denke das wird vielen anderen auch so gehen – ist es unwichtig, ob Jesus Nachkommen hat oder nicht. Natürlich unterstreicht so etwas seine Menschlichkeit. Aber er ist im christlichen Glauben eben nicht nur wahrer Gott, sondern auch wahrer Mensch!
[1] Schönberger, Marlene: Freimaurertum, Zionismus und konspirative Eliten: Die Wirkung von Verschwörungstheorien auf demokratische Einstellungen, München 2017, S. 21.
[2] Raab, Marius Hans: Manipulation, Exaggeration and Conspiracy. Experimental Approaches to a Better Understanding of the Belief in Conspiracy Theories, Bamberg 2016, S. 7.
[3] Brown, Dan: Sakrileg, Köln 2004, S. 344.
[4] Vgl. Brown: Sakrileg, S. 349–355.
[5] Brown: Sakrileg, S. 348–356.
[6] Raab: Manipulation, Exaggeration and Conspiracy, S. 100.
[7] Raab: Manipulation, Exaggeration and Conspiracy, S. 92, 110f.
[8] Raab, Marius, Carbon, Claus-Christian, Muth, Claudia: Am Anfang war die Verschwörungstheorie, Berlin 2017, S. 113-115.138f.
[9] Raab: Manipulation, Exaggeration and Conspiracy, S. 24.
[10] Raab: Manipulation, Exaggeration and Conspiracy, S. 24.
[11] Vgl. Blume, Dr. Michael: Ep. 1 Was ist das Problem mit Verschwörungsglauben? [Audio-Podcast] in: Verschwörungsfragen, 26. März 2020, [online] https://open.spotify.com/episode/1sziDouqJRA3DdfwEfFlCS?si=dTWoppSrTWyhQVgpBorAWg, 07:10-07:18.
[12] Blume: Ep. 1 Was ist das Problem mit Verschwörungsglauben?, 07:21–07:27.
[13] Brown: Sakrileg, S. 507f.,556–561.
[14] Vgl. Brown: Sakrileg, S. 463f.
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